In der Debatte um mögliche Gesundheitsschäden durch Stickstoffdioxid (NO2) schlägt ein früheres Mitglied der Regierungskommission für Bevölkerungsschutz, der Arzt und Biochemiker Prof. Alexander Kekulé, die Angleichung der europäischen Grenzwerte an die in den USA gültigen Werte vor. Im Interview mit dem NDR plädiert Kekulé dafür, den derzeit gültigen Grenzwert von 40 Mikrogramm NO2 pro Kubikmeter Luft auf 100 Mikrogramm anzuheben und sich damit dem US-amerikanischen Grenzwert anzuschließen. Es gebe keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass im Bereich zwischen 40 und 100 Mikrogramm durch NO2 verursachte gesundheitliche Schäden auftreten. Die US-amerikanische Umweltbehörde sei in einer großen Studie 2018 erneut zu dieser Bewertung gekommen. Kekulé, Direktor des Instituts für Biologische Sicherheitsforschung in Halle (Saale), sagte dem NDR: „Ein größeres Team hat sich nie damit beschäftigt, und egal, wie wir es in Europa machen, wir werden das nicht besser beurteilen können.“
Gleichzeitig fordert Kekulé aber auch eine Absenkung der in Europa gültigen Grenzwerte für Feinstaub auf das strengere US-amerikanische Niveau. Beim Feinstaub seien die Hinweise auf Gesundheitsgefahren wesentlich klarer als bei Stickstoffdioxid. Durch die Angleichung der Vorschriften würden die Automobilhersteller gezwungen, die jeweils besten verfügbaren Technologien zur Abgasreinigung auch in Europa anzubieten, statt diese wie derzeit nur in Autos für den US-Markt einzubauen.
Das Verfahren, mit dem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Basis für den gültigen EU-Grenzwert festgelegt hat, kritisiert Kekulé scharf. Für den Wert von 40 Mikrogramm NO2 pro Kubikmeter Luft im Jahresmittel gäbe es keine belastbare wissenschaftliche Basis. Auf Grund von zum Teil widersprüchlichen Studien sei in den 1990er-Jahren ein Richtwert grob geschätzt worden: „Das ganze Verfahren, als damals der Grenzwert festgelegt wurde, ist aus wissenschaftlicher Sicht etwas zum Fremdschämen.“
Die Europäische Kommission habe seinerzeit die Empfehlung einer Arbeitsgruppe der WHO unverändert übernommen, obwohl diese selbst davor gewarnt hatte, eine Richtgröße für NO2 unmittelbar als gesetzlichen Grenzwert zu verwenden. Kekulé dazu: „Die WHO hat einen Richtwert vorgeschlagen, der die persönliche Exposition betrifft. Das heißt, wie viel ein Mensch im ganzen Jahr höchstens aufnehmen soll, um sicher keinen Gesundheitsschaden zu haben. Das darf man nicht eins zu eins zu einem Grenzwert machen, der an einer Straßenecke gemessen wird, wo sich niemand 365 Tage im Jahr aufhält.“
Die Überschreitung des Grenzwerts für NO2 hat in vielen deutschen Städten zur Verhängung von Fahrverboten für ältere Dieselfahrzeuge geführt.
Zu aktuellen Forderungen, wonach nur Epidemiologen Einschätzungen zu den derzeit geltenden Grenzwerten abgeben sollten, sagte Alexander Kekulé: „Es geht bei der Beurteilung umweltepidemiologischer Studien ja nicht nur um Mathematik. Mathematische Modelle sind nur so gut wie die Grundannahmen, mit denen sie gefüttert werden. Und hier ist ein wesentlich breiterer wissenschaftlicher Sachverstand gefragt, als nur die besondere Perspektive des Umweltepidemiologen. Deshalb sind Gremien, die sich mit der Findung von gesundheitlichen Richtwerten befassen, in der Regel mit Fachleuten verschiedener Disziplinen besetzt.“
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